Wie werden wir in Zukunft den Begriff Heimat denken?

Portrait Hermann Bausinger
Hermann Bausinger © Franziska Kraufmann
Hermann Bausinger, 1926 in Aalen geboren, ist emeritierter Professor der Universität Tübingen, wo er von 1960 bis 1992 das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft leitete. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Alltagskultur, Kultur- und Sozialgeschichte, Volksliteratur, Sprach- und Dialektprobleme sowie Landeskunde. Die Fragen stellte Hergen Wöbken.

Herr Bausinger, Sie haben sich als Kulturwissenschaftler fast Ihr ganzes Akademikerleben lang mit Baden-Württemberg beschäftigt und gelten als einer der besten Kenner des Landes und der Menschen. Was antworten Sie kurz und prägnant, wenn jemand vom anderen Ende der Welt noch nie von Baden-Württemberg gehört hat und Sie fragt: Was sollte ich über Baden-Württemberg wissen?

Dass das Bindestrich-Land erst durch die Neuordnung nach dem Krieg zustande kam und dabei verschiedene Traditionen aufnahm, und dass es schon vor den vielen Zuwanderungen vielfältiger und bunter war als andere Bundesländer – Berge und ausgedehnte Ebenen, urbane Ballungsgebiete und ländlicher Raum, Großindustrie und Handwerk, katholisch und protestantisch.

„Verstehen Sie Ba-Wü?“ titelte die taz am 12. März 2021 vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg und widmete der Frage weitere volle 12 Seiten in der Zeitung. Wer Baden-Württemberg aus der Ferne beobachtet, versteht viele Widersprüche nicht. Wie passt zum Beispiel die Bürgerbewegung gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 zum Protest von „Querdenkern“ gegen eine vermeintliche „Coronadiktatur“? Ist die schwäbische Sturheit der gemeinsame Nenner? Das allein kann es nicht sein. Oder?

Statt Sturheit würde ich Eigensinn sagen. Es gibt starke demokratische Traditionslinien. Von außen trat meist die gemütliche, ‚behäbige‘ Art in den Vordergrund; aber daneben gab es immer wieder revolutionäre Ansätze, die lange auch in der eigenen, bürgerlichen Geschichtsschreibung übergangen wurden – 1848, 1918, 1968. In diese Reihe gehört der Protest gegen Stuttgart 21. Die Bewegung der Querdenker ist sehr viel stärker von der Globalkultur der neuen Medien getragen.

Warum haben alle innerhalb und außerhalb von Baden-Württemberg eine Meinung zu Baden-Württemberg?

Außerhalb vielleicht, wenn auch „alle“ wohl nicht gerechtfertigt ist. Innerhalb unterscheiden sich die Meinungen schon deshalb, weil die Badener sich gerne absetzen von Württemberg.

Als Fremder in Ihrem Kulturkreis habe ich für die Ausstellung in der Galerie Valentien 16 Eingeborene, Schwaben und Badener, versammelt. Alle 16 lassen sich nicht auf ihre Herkunft festlegen und sind trotzdem so offen und freundlich, sich auf unsere Einladung einzulassen. Alle 16 sind in ihren Persönlichkeiten und in ihrem Schaffen viel zu großartig, um auf irgendwelche Klischees reduziert werden zu können. Können Sie an einem Beispiel zu den Begriffen Heimat und Identität erläutern, warum an einem Klischee alles falsch und trotzdem etwas richtig sein kann?

Oft erzählter Witz: Bei einer Bergtour stürzt eine Schwäbin in eine tiefe Felsspalte. Nach einer halben Stunde ertönt es von oben: Hier ist das Rote Kreuz! Darauf die Stimme von unten: Mir gäbet nix – Wir geben nichts. Diese Geschichte kann man auch von Schwaben hören; sie führen das Klischee ad absurdum. Aber es hat, wie viele pauschale Charakteristiken, einen wahren Kern: In großen Teilen des alten Württemberg brauchte es in der kleinbäuerlichen Wirtschaft zum Überleben extreme Sparsamkeit, und sie war auch durch den pietistisch überformten Glauben gefordert.

Warum ist Heimat immer noch wichtig?

Wenn mit Heimat nicht nur die Rettung alter Fachwerkhäuser und allerlei Folklore assoziiert wird, sondern die Herstellung erträglicher Lebensumstände für alle in einem Ort oder einer Region Wohnenden, dann hat der Begriff angesichts der komplexen Verhältnisse größeres Gewicht denn je. Die Konfrontation mit der Unüberschaubarkeit und – nicht nur in Coronazeiten – Unberechenbarkeit braucht als Gegengewicht Orte und Bedingungen der verlässlichen Sicherheit.

Als Bremer bin ich mit einem Kleinstadtkomplex aufgewachsen. Uns Jugendlichen war immer klar, dass wir nach der Schule aus dieser vermeintlichen Provinz aufbrechen müssen, mindestens nach Hamburg oder Berlin, besser noch weiter weg. Mittlerweile sehe ich das ganz anders und liebe meine Heimatstadt. Der Galerist Max Hetzler, der in den 70ern eine Galerie in Stuttgart eröffnete und in den 90ern nach Berlin übersiedelte, erzählte mir vor etwa zehn Jahren im Rahmen einer Studie, dass er in seiner Berliner Galerie Kunstwerke an seine Stuttgarter Sammler von damals verkauft, die es schicker finden, in Berlin Kunst einzukaufen. Ist das auch ein Kleinstadtkomplex Stuttgarter Sammler? Was hilft dagegen?

Sicher ist in jüngster Zeit die Orientierung der Provinz an den Metropolen gewachsen; hiesige Sammler kaufen nicht nur in Berlin, sondern auch in Basel und New York, wenn sie das Geld haben. Aber daneben gibt es doch ein früher nie vorstellbares Kunstleben in der Provinz, mit vielen Amateuraktivitäten, aber auch mit weiten Ausgriffen von Museen und Galerien.

Baden-Württemberg hat den bekanntesten Slogan aller Bundesländer: „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“. Kann etwas eine Schwäche sein, das so demonstrativ vorgeführt wird? Oder zeigt es ausschließlich Stärke, die es ja vermutlich zeigen soll?

Der Werbespruch war nicht ganz so durchschlagend, wie er oft gesehen wird, auch nicht im Land: Wenn der VfB Stuttgart in Freíburg spielte, wurde er mit Plakaten empfangen: „Wir können alles. Außer Schwäbisch“ oder „Wir können alles. Auch Hochdeutsch.“ Die Anspielung auf den Dialekt sollte die Autonomie gegen andere Regionen betonen, ist allerdings schon deshalb schwächer geworden, weil der Gebrauch der Mundart zurückgegangen ist.

Drückt ein solches Selbstbewusstsein nicht auch gleichzeitig Heimatgefühle aus? Eine Verbundenheit mitsamt der Macken und Schwächen?

Zweifellos. Es war auch ein Lockruf für auswärtige Touristen, aber mehr noch eine Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung.

Wenn es stimmt, dass Baden-Württemberg alles kann, welche kulturellen Merkmale sind es, die Veränderungen ermöglichen, zum Beispiel eine Transformation von der Vision einer autogerechten Stadt wie in Stuttgart hin zu einem Leben ohne fossile Brennstoffe?

Ich denke, alle Leute im Land wussten und wissen, dass BW nicht alles kann, und tatsächlich gibt es neben Erfolgsgeschichten auch die negativen Pointen des Scheiterns. Der Spruch gehört in den Großraum politischer und sonstiger Reklame, während im Alltag des Landes Arbeitsamkeit meist mit Bescheidenheit gepaart ist.

Wie werden wir in Zukunft den Begriff Heimat denken?

Nicht mehr konzentriert auf romantisierte Bilder von der – angeblich – guten alten Zeit, und weniger bezogen auf einen abgegrenzten Raum, sondern offen für die rasch wechselnden neuen Konstellationen, an deren humaner Qualität ständig gearbeitet werden muss.

Viele Künstler*innen würden vielleicht sagen, ihre Heimat sei die Kunst. Sie, Herr Bausinger, sprechen immer wieder von mehreren Heimaten. Meinen Sie das damit? Ideelle und konkrete Heimaten?

Es ist sicher richtig, dass man sich in bestimmten Tätigkeitsbereichen besonders zuhause fühlen kann, auch in bestimmten Gruppierungen wie beim Sport oder in einem Orchester. Aber ich meine, beim Begriff Heimat sollte der räumliche Bezug nicht preisgegeben werden.
Gerade weil sich die Zusammensetzung der Bevölkerung geändert hat (nur noch etwa die Hälfte der Menschen in Deutschland lebt in dem Ort oder der Gegend, wo schon die Vorfahren gelebt haben), kommt es darauf an, nicht nur einen sicheren Rückzugsort für sich zu schaffen, sondern Gemeinwesen, die für alle dort Lebenden die Qualität von Heimat vermitteln.

Über Ihr Buch mit Muhterem Aras über Heimat sagen Sie, dass „Heimat“ für Sie ein Planungsbegriff ist. Welche Vision für die Zukunft verbinden Sie damit?

Ich glaube, die Achtsamkeit auf Heimat fordert mehr und mehr sensible Balanceakte.
Industrieller Ausbau und technische Verbesserungen müssen in Relation zu den Aus- und Nebenwirkungen für die unmittelbar, aber auch mittelbar Betroffenen abgewogen werden; das war bei Stuttgart 21 (inzwischen wohl Stuttgart 31) nicht der Fall. Und Heimat ist auch ein politisches Prinzip, gesichert durch das Grundgesetz, das für alle im Land Lebenden gilt. Das hat Frau Aras in dem genannten Buch betont.

Literatur von Hermann Bausinger u.a.
Der herbe Charme des Landes – Gedanken über Baden-Württemberg
Die bessere Hälfte: Von Badenern und Württembergern
Zusammen mit Muhterem Aras: Heimat. Kann die weg?: Ein Gespräch, eingeleitet und moderiert von Reinhold Weber